Der Orang-Utan schaute mir direkt in die Augen. Ich war überrascht. Ich suchte in meinem Gedächtnis nach Wissen. Es war nicht viel vorhanden. Eigentlich hatte ich keine Ahnung. »Direktes In-die-Augen-Schauen bedeutet Aggression.« Das hatte ich gehört oder gelesen. Der Orang-Utan schaute mir weiter direkt in die Augen. Von Aggression keine Spur. Dieser Blick berührte mich tief. Ich würde ihn nie vergessen. Ich war nicht auf Borneo oder auf Sumatra – dem Lebensraum der Orang-Utans. Mein Standpunkt war der Tierpark Hagenbeck in Hamburg. Jahre später zog ich auf die andere Seite der Stadt, in die Nähe des Tierparks. Joggte jeden zweiten Tag um das große Areal. Der nie vergessene Blick spielte sich nach vorne. Ich telefonierte mit der Pressestelle und bat um ein Interview.
Drei Tage später sitze ich neben dem Tierpfleger der Orang-Utans Claus Claussen in der großen Kuppel des Orang-Utan-Hauses. Tuan, der Alphamann, schaut zu uns herüber. Unsere Blicke streifen sich, wenn auch nur von Weitem. Das Interview beginnt und nimmt schnell Fahrt auf. Claus Claussen betreut seit 14 Jahren Orang-Utans. Er ist engagiert und versiert. Ich kann seine große Leidenschaft für die Orang-Utans spüren. Zum Schluss hat er noch eine Botschaft an euch. Ich bitte um Aufmerksamkeit für Herrn Claussen und: die Orang-Utans.
Der Frager: Die Zoologen sagen, die Erbinformation des Orang-Utans sei zu 97 Prozent identisch mit der des Menschen, sodass der Orang-Utan zu unseren nächsten Verwandten zählt. Wie macht sich das bemerkbar?
Claus Claussen: Man kann tatsächlich sehr viele Ähnlichkeiten zwischen Orang-Utans und Menschen beobachten. Allerdings sollte man darauf achten, dass man Orang-Utans in diesem Vergleich nicht »vermenschlicht«. Das wird ihnen nicht gerecht. Im Alter von 4 bis 7 Jahren zeigen sie zum Beispiel ein auffallend ähnliches Spielverhalten wie Menschenkinder. Es gibt sehr vieles, was unserem Verhalten ähnelt – das lässt sich aber nicht genau in Zahlen fassen. Dazu neigen Menschen ja etwas. Sie wünschen sich Statistiken und Definitionen. Aber die benötigt man gar nicht. Man muss Orang-Utans nur beobachten und kann dabei verblüffend viele Gemeinsamkeiten erkennen und sehen, dass es unsere nächsten Verwandten sind.
Als ich Hagenbeck vor ein paar Jahren besuchte, schaute mir ein Orang-Utan direkt in die Augen. Ich hatte großen Respekt und es hat mich berührt. Was, glauben Sie, denken Orang-Utans über Menschen? Wie empfinden sie uns?
Dieses direkte In-die-Augen-Schauen ist typisch für Orang-Utans. Sie kommunizieren bis zu 70 Prozent über die Augen. Sie scannen ihr Gegenüber ganz genau. Dabei registrieren sie jede Kleinigkeit. Ob ein Schuhband offen ist oder ob man etwas in der Hosentasche hat, sie merken es sofort. Was sie empfinden, wenn sie Menschen begegnen, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall versuchen sie, unsere Stimmung, unsere Gefühle herauszufinden.
Machen sie das, um sich zu schützen oder aus Neugier?
In der Zootierhaltung besteht ja keine Gefahr. Es handelt sich also um Neugier. In der freien Wildbahn ist das völlig anderes. Hier müssen sie aus Schutzgründen genau schauen, wer ihr Revier betritt.
Kommt es vor, dass ein Orang-Utan eine besondere Aufmerksamkeit für einen bestimmten Menschen hat?
Ja, das gibt es. Unser großer Orang-Utan zum Beispiel wurde von einer blonden Frau aufgezogen. Deshalb besitzt er eine deutlich höhere Aufmerksamkeit für blonde Frauen. Unsere Dauergäste, die 300 Tage im Jahr hier sind, erkennen sie natürlich auch. Einmal kam eine fast blinde Dame im alten Affenhaus sehr nah an die Scheibe heran, weil sie so schlecht sehen konnte. Sie hatte einen braunen Pelzmantel an, der einem Orang-Utan-Fell sehr ähnelte. Der ehemalige Alphamann hat stark darauf reagiert. Er empfand das ganz offensichtlich als Bedrohung.
Einer der Orang-Utans reckt den Hals und schaut die ganze Zeit zu uns herüber. Herr Claussen meint, dass er genau beobachtet, wer sich mit ihm unterhält.
Man sagt über Orang-Utans, sie seien Tiere mit Herz und Verstand. Zugleich heißt es aber auch, dass sie Einzelgänger sind. Könnten Sie bitte etwas zum Sozialverhalten der Orang-Utans sagen?
Orang-Utans sind eher Einzelgänger oder, sagen wir, einzelgängerisch. Besonders die großen Männchen. Sie haben ihr festes Revier und wollen von anderen Orang-Utans nicht viel wissen. Es sei denn, die Weibchen sind empfängnisbereit. Das ist alle 6 bis 8 Jahre der Fall. Mütter mit Kindern treffen sich allerdings schon mal ganz gerne. Wenn das Futterangebot gut ist oder größere Raubtiere in der Umgebung sind, bilden Orang-Utans manchmal auch Gruppen. Ist das Futterangebot allerdings gering, gehen sie alleine los. So sind sie flexibler und schneller. Was wir hier in der Zootierhaltung zeigen, ist eigentlich etwas unbiologisch und nicht typisch. Wir haben sieben Orang-Utans. Eine Großfamilie. Vier Generationen leben zusammen. Die Kleinen lernen von den Großen. Für Futter ist ausreichend gesorgt. Deshalb leben die Orang-Utans hier »ohne Stress« in der Gruppe.
Wie reagieren Orang-Utans auf Dinge, die sie noch nie gesehen haben, etwa auf Radio oder Fernsehen?
Sie kennen Musik von CDs und auch aus dem Radio. Fernsehen haben sie schon geschaut und sogar vor einem Laptop saßen sie schon. Orang-Utans sind generell sehr neugierig. Sie merken sofort, wenn im Gehege etwas verändert wurde, selbst Kleinigkeiten. Hängt beispielsweise ein Seil etwas anders als am Vortag, wird es genau untersucht. Sie riechen oder lutschen daran. Wenn das Futter eine neue Frucht enthält, wird auch das genau erforscht. Sie sind wirklich sehr neugierig. Natürlich haben sie in der Zootierhaltung keinen Stress und deshalb auch die Zeit dazu, sich ausgiebig mit den Dingen zu beschäftigen.
Mögen Orang-Utans die Aufmerksamkeit der Besucher? Wie verändern sie dabei ihr Verhalten?
Unsere Orang-Utans mögen es schon, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Besonders unsere zwei Jüngsten – Marie und Simia – hampeln dann mehr herum. Wenn wir morgens zwei, drei Schulklassen mit 30 bis 40 Kindern zu Besuch haben, dann drehen sie auf. Das steigert sich natürlich, wenn die Kinder applaudieren oder lachen. Sie beobachten die Reaktionen der Menschen genau. Manchmal ahmen sie auch Besucher nach.
Wie erleben Sie die Gefühlswelt der Tiere? Sind Orang-Utans traurig, froh oder ärgerlich? Wie reagieren sie auf die Gefühle ihres Gegenübers?
Orang-Utans haben Ängste und Vorlieben, sie empfinden Trauer – wie wir Menschen. Sie fühlen auch, wie es mir geht. Ob ich Kopfschmerzen habe, ob ich müde bin und in welcher Stimmung. Man muss bei den Orang-Utans aber schon genau hinschauen. Dann kann man das sogenannte Affenlachen des Öfteren beobachten.
Das heißt, Ihre Orang-Utans lachen mit Ihnen?
Nein – das weniger. Eher untereinander. Es gibt so ein Orang-Utan-Lachen. Wenn sie zusammen herumrangeln, dann zeigen sie sich die Zähne. Bei manchen Tieren ist es eher eine Drohgeste, bei den Orang-Utans ist das eine Art Lachen.
Haben Sie durch die Arbeit mit Orang-Utans eine andere Perspektive auf die Welt bekommen?
Gute Frage. Das Sozialverhalten der Orang-Utans ist beeindruckend. Ich denke mal, in den 13 bis 14 Jahren, die ich mit den Orang-Utans arbeitete, konnte ich einiges von ihnen lernen. Ich frage mich immer, ob wir uns vielleicht sprichwörtlich mehr zum Affen machen sollten. Natürlich gibt es auch Menschenaffen wie die Schimpansen, die Bündnisse schließen und Kriege führen. Die Orang-Utans sind aber wesentlich friedlicher.
Was mich sehr beunruhigt, das ist die Vernichtung des natürlichen Lebensraums der Orang-Utans durch den Menschen. Hauptprobleme sind dabei die Errichtung von Monokulturen, die Palmölproduktion, der Abbau von Tropenholz für Balkonmöbel oder die Nutzung von billigem Holz zur Herstellung von Druckerpapier. Wenn wir das nicht stoppen, wird es in fünf bis zehn Jahren von den 7000 Orang-Utans auf Sumatra und den circa 20 000 auf Borneo nur noch sehr wenige geben.
Was möchten Sie den Leuten in Bezug auf die Orang-Utans gerne sagen? Was ist Ihre Botschaft?
Wichtig ist mir, dass die Menschen die Bedrohung der Orang-Utans ernst nehmen. Dass man beispielsweise genau schaut, in was Palmöl enthalten ist – in einigen Frittierfetten oder Schuhcremes. Dass man keine Kerzen kauft, die mit Palmöl hergestellt wurden, sondern zum Beispiel Kerzen mit Paraffinöl. Möbel aus Tropenhölzern sollte man besser gar nicht kaufen.
Sehr hilfreich sind Geldspenden an die Organisationen, die sich für die Erhaltung der Lebensräume der Orang-Utans einsetzen. Mit diesen Geldern wird der Urwald wieder aufgeforstet und auch für die Zukunft geschützt. Schließlich wäre es natürlich schön, wenn wir uns gegenseitig aufklären, was für großartige und besondere Tiere Orang-Utans sind.
Vielen Dank für das Interview an Claus Claussen.
Vielen Dank an die Orang-Utans Tuan, Toba, Sly, Marie und Simia.
Danke auch an Michaela Wilke von der Presseabteilung, die das Interview ermöglicht hat und natürlich auch ein Dankeschön an den Tierpark Hagenbeck.
Bitte lest auch den Frager-Artikel: Unterstützung für die Orang-Utans
Der Frager
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1 Kommentar
Sonja Krüner
28. Oktober 2013 at 16:09Danke für das aufklärende Interview. Und Augen auf beim Putzmittelkauf!