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Torsten Wirschum – wie aus einem Umherstreifenden ein Wanderer wurde

Torsten Wirschum ist ein Wanderer, ein stiller Reflektierer, ein Betrachter – und Autor ist er auch.
Er ist kein Wanderer im herkömmlichen Sinn. Kein über Stock und Stein gehender Naturbewunderer oder in sich gekehrter Sinnsuchender. Ich glaube, so wie er das Wandern betrachtet, so muss man auch ihn betrachten. Es kann nur eine Annäherung sein. Eine Annäherung an einen bemerkenswerten Menschen, der sagt: »Für mich beinhaltet Gehen eine ganz bestimmte Herangehensweise, und zwar eine, die kärger und reduzierter ist als zumindest das moderne Wandern. Ich nutze kein GPS, auch keine Karten oder ähnliche Hilfsmittel, für mich steht die Bewegung im Vordergrund. Und bis zu einem gewissen Grad mag ich das Ungewisse. Ich möchte die Wege, auf denen ich meine Zielorte erreiche, oft gar nicht zu genau festlegen, weil ich das als Einschränkung empfinde, auch wenn das sehr oft dazu führt, dass ich Umwege und Irrwege einschlage.« 

Der Frager: Wann hast du dich zum ersten Mal als gehenden Menschen wahr genommen? Und was ist dir von diesem Moment in Erinnerung geblieben?

Torsten Wirschum: Ich glaube, da gibt es keinen richtigen Anfang in dem Sinne, dass irgendwann ein Urknall stattgefunden hat und ich danach das Gehen als hauptsächliche Form des Unterwegsseins für mich entdeckt hätte.
In den großen Städten, in denen ich gewohnt oder mich häufig aufgehalten habe – Köln, Würzburg oder Saarbrücken zum Beispiel – bin ich immer sehr viel gegangen, oft viele Kilometer weit und nicht selten auch, ohne dass ich zielstrebig einen bestimmten Ort angesteuert hätte. Vermutlich war dieses Umherstreifen so etwas wie der Beginn.
Das Gehen hat im Laufe der Jahre einfach immer mehr Raum eingenommen, auch im Alltag. Aber dass ich 30, 40, 50 und mehr Kilometer durch die Gegend wandern würde, wie ich es mittlerweile tue, das hat sich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wirklich erst mit dem Start des Wandertagebuches ergeben. Daran habe ich vorher keinen Gedanken verschwendet.
Allein schon deshalb, weil ich damit gerechnet hätte, mich nach 40 Kilometern mit Gepäck und über Stock und Stein tagelang nicht mehr von der Stelle bewegen zu können. Das hat sich gründlich geändert.

Wo liegt für dich der Unterschied zwischen Gehen und Wandern? 

Gute Frage.
Grundsätzlich ist Gehen als Begriff sicherlich viel umfassender als Wandern, selbst wenn ich alles, was unter Alltagsgehen zu zählen ist, völlig außer Acht lasse. Schlendern ist Gehen, ein Sonntagsspaziergang ebenfalls, aber beides ist in meinen Augen kein Wandern.
Andererseits schreibt zum Beispiel Henry David Thoreau in seinem berühmten Essay »Walking«, dass er täglich mindestens vier Stunden durch den Wald und über Hügel und Felder schlendern müsse, um seine Gesundheit zu erhalten. Ein vierstündiges Gehen über Stock und Stein als Schlendern zu bezeichnen, käme mir dagegen nie in den Sinn.

Für mich beinhaltet Gehen aber auch eine ganz bestimmte Herangehensweise, und zwar eine, die kärger und reduzierter ist als zumindest das moderne Wandern. Ich nutze kein GPS, auch keine Karten oder ähnliche Hilfsmittel, für mich steht die Bewegung im Vordergrund. Und bis zu einem gewissen Grad mag ich das Ungewisse. Ich möchte die Wege, auf denen ich meine Zielorte erreiche, oft gar nicht zu genau festlegen, weil ich das als Einschränkung empfinde, auch wenn das sehr oft dazu führt, dass ich Umwege und Irrwege einschlage.

Du wanderst ja durch ganz Deutschland. Auf deiner Site »Wandertagebuch« sind, abgesehen von Sachsen-Anhalt, überwiegend westdeutsche Bundesländer. Hat das einen bestimmten Grund? 

Nur einen einzigen, nämlich die Entfernungen.
Es gibt in den neuen Bundesländern jede Menge Orte und Gegenden, die ich gerne erkunden würde – von Weimar in Thüringen bis Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern, vom östlichen Harz bis zur Uckermark, um nur einige Beispiele zu nennen. Aber ich wohne nun einmal genau am anderen Ende Deutschlands. Das schließt Tagestouren in die östlichen und
nordöstlichen Regionen Deutschlands schon mal völlig aus. Und was Mehrtagestouren betrifft, ist eben meine nähere Umgebung auch noch voller unbekannter Wege und Pfade.
Ein Leben ist einfach zu kurz, um alles zu entdecken, selbst wenn man sich auf Deutschland beschränkt.

Du bist aus der kleinen saarländischen Stadt Lebach. Magst du uns erzählen, was dich während deiner Kindheit und Jugend geprägt hat, den Weg des Wanderers einzuschlagen? 

Als Kind und vor allem als Jugendlicher war ich Läufer. Auf die Idee, in einem Wald zu verschwinden und nach vielen Stunden des
Wanderns wieder aufzutauchen, wäre ich damals nicht im Traum gekommen. Trotzdem ist dieses nur auf Geschwindigkeit ausgerichtete Laufen jener Tage der Anfang einer Entwicklung, die heute noch andauert.
Mit den Jahren wurde die Geschwindigkeit immer geringer, dafür wurden die Strecken, die ich zurücklegte, länger. Beinahe schon zwangsläufig kam irgendwann der Punkt, an dem ich das Laufen einstellte und zum reinen Geher bzw. Wanderer wurde. Und ich stellte etwas fest, das mich ziemlich überraschte – dass mir das weite Gehen um einiges besser gefiel als das Laufen.
Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich zehn Jahre früher mit dem Wandern beginnen.

Wie und auch wie lange bereitest du dich auf eine Route vor? Wie muss man sich das vorstellen? Was sind deine Kriterien? 

Am Anfang steht die Entscheidung, in welcher Gegend ich überhaupt wandern will und dann schaue ich, was da möglich ist.
Ich bin ganz und gar kein reiner Naturwanderer, sondern mag es auch, Städte zu durchstreifen und auch gegen Passagen an befahrenen Landstraßen entlang habe ich nichts.
Was die Länge der Vorbereitung betrifft, so ist das von Wanderung zu Wanderung sehr unterschiedlich. Wenn ich nur einen einzelnen Rundwanderweg vom Start bis zum Ziel abwandern will, dann ist die Vorbereitung oft innerhalb von Minuten erledigt. Dass meine Wanderungen aus einem einzelnen Rundwanderweg bestehen, das ist mittlerweile aber selten. Meistens setzen sich meine Touren – gerade die längeren – aus verschiedenen Wanderpfaden, oft auch zusätzlich aus eigenen Routen zusammen. Die wollen erst einmal gefunden und dann auch irgendwie sinnvoll zusammengebracht werden. Das kann schon mal einen halben Tag dauern.
Die Vorbereitung auf Mehrtagestouren in völlig unbekannten Gegenden besteht meistens in einer langwierigen Prozedur aus Suchen, Zusammenfügen und Verwerfen.
Da ich ja während der Wanderungen weder GPS noch Landkarten benutze, mache ich mir oft Notizen über den groben Wegeverlauf inklusive der einen oder anderen Variation. Meistens komme ich so tatsächlich auch dort an, wohin ich wollte. Und wenn nicht, dann ist es auch nicht schlimm.

Wie ernährst du dich während deiner Wanderungen und wo schläfst du?

In erster Linie trinke ich viel.
Was das Essen angeht, bereite ich mir normalerweise vorher was zu – hauptsächlich Reis oder Nudeln und Gemüse. Es kommt aber auch vor, dass ich mich während der Tour mit Müsliriegeln oder einem Apfel begnüge.
Für Übernachtungen nutze ich meistens Hotels.

Wanderst du ausschließlich alleine oder auch in Begleitung? Begegnen dir auf deinen Wanderungen auch Menschen, die dich ein Stück weit begleiten? Was sind das für Menschen? Magst du eine für dich besondere Begegnung erzählen? 

Oft wandere ich alleine, oft auch mit meiner Freundin oder mit engen Freunden. In größeren Gruppen wandere ich nie, das würde meine Aufmerksamkeit für die landschaftliche Umgebung allzu sehr beeinträchtigen und mein Blog lebt sicher u. a. von Beobachtungen und deren sprachlicher Umsetzung.
Es gab so einige besondere Begegnungen auf meinen Wanderungen, und zwar nicht nur mit Wanderern oder Pilgern, die alle irgendwie auf ihrem Weg waren, sondern auch mit Spaziergängern und Anwohnern.
Irgendwo im nördlichen Spessart bin ich bei einer Rast frühmorgens mit einem vorüberkommenden Spaziergänger ins Gespräch gekommen. Der Dialog ging immer weiter und weiter und am Ende hat er sich sogar bedankt.
Ganz allgemein habe ich viel Hilfsbereitschaft erfahren, gerade wenn ich als verirrter Wanderer wieder einmal nach dem Weg fragen musste.

Gab es auf deinen Wanderungen auch Orte, die in dir etwas bewegt haben, die eventuell sogar dein Denken oder dein Leben verändert haben? 

Es ist die Summe der Orte und Wege, die es geschafft haben, mein Leben zu verändern, und irgendwie hat jeder einzelne Ort, jeder einzelne Weg dazu beigetragen, auch und gerade viele vermeintlich unscheinbare. Ich denke, wenn man losgeht, sich auf den Weg macht – und zwar über viele Jahre hinweg immer wieder –, dann verändern sich die Dinge ganz von selbst, das liegt in der Natur der Sache.

9. Deine Routenbeschreibungen beginnst du oft sehr nachdenklich und poetisch. So schreibst du zur Route von Hirschhorn nach Eberbach: »Es gibt Augenblicke, da spielt man mit dem Gedanken, sich irgendwo einen Platz am Rande der Welt zu suchen, dort die Füße hochzulegen und darauf zu warten, was sich tut. Darauf, ob das Nichtstun im Handumdrehen zu geistiger wie körperlicher Erstarrung führt oder ob sich vielleicht sogar im Laufe der Zeit eine bislang unentdeckte innere Harmonie einstellt, die man nicht mehr missen möchte.« Welche Bedeutung hat das Schreiben vor, beim oder nach dem Wandern für dich?

Letztlich ist mein Blog ein literarischer Blog, wenngleich es natürlich keine Fiktion ist, was ich beschreibe. Aber die Sprache
ist literarisch. Diese Verbindung von Sprache und Unterwegssein ist es auch, die mich von Anfang an gereizt hat. Und wie das Schreiben mein Leben prägt, so tut es jetzt auch das Gehen.
Nebenbei erwähnt hat mich als Leser das Unterwegssein in jeder Form schon immer interessiert – die weitläufig und betulich beschriebenen Wanderungen in Stifters Nachsommer, Fontanes Schilderungen, die Streifzüge mancher Protagonisten durch New York bei Paul Auster und so weiter.
Selbst wenn das Unterwegssein in einem Roman nicht einmal ein Randthema war, sondern einfach nur in ein paar vernachlässigbaren Sätzen irgendwie zur Sprache kam, war sofort mein Interesse geweckt.

Wie hat das Wandern dich verändert? 

Da ließe sich einiges anführen.
Ganz banal hat sich meine ohnehin bereits vorhandene Beharrlichkeit noch ein bisschen verstärkt. Die ist auch von Vorteil, wenn man bei Wind und Wetter draußen herumläuft.
Man lernt auch eine gewisse Genügsamkeit. Viel mehr als Kleidung, Wegzehrung und eine Himmelsrichtung braucht man nicht zum Gehen.
Damit zusammenhängend ist da auch noch der Aspekt der Langsamkeit. Ich meine, ich lege in vielen Stunden eine Strecke zurück, für die ich mit dem Auto zwanzig Minuten benötige. Dadurch erscheint selbst der winzige Ausschnitt der Welt, der gehend und wandernd für mich erreichbar ist, mit einem Mal riesengroß.
Das macht geduldig.

Wie hat sich deine Wahrnehmung bezüglich der Menschen und Orte über die Jahre verändert? 

Es ist einfach ein gutes Gefühl, einen Ort zu Fuß zu erreichen.
Das war so aber von der allerersten Wanderung an bereits der Fall,
verändert hat sich da nichts, sondern eher über die Jahre hinweg bestätigt.
Was Menschen betrifft – ich habe eine Menge Leute in Situationen getroffen, in denen sie was zu erzählen hatten. Oft waren das kleine Anekdoten über die Gegend, in der sie lebten. Die Erkenntnis, dass es sich lohnt zuzuhören, ist dadurch noch etwas mehr in mein Bewusstsein getreten.

Wenn du jetzt ein Buch schreiben würdest, was wäre der Schwerpunkt und wie wäre der Titel? 

Ich schreibe aktuell tatsächlich an zwei Büchern, einem Wander-E-Book und einem Fantasyroman, zwei völlig unterschiedlichen Genres also. Denn auch wenn das Wandern durch den Blog so ein wenig in den Mittelpunkt gerückt ist, bei meiner Schreibarbeit steht es nicht an erster Stelle.

Welcher Gedanke hat dich in schwierigen Zeiten weitergetragen? 

Passend zum Thema: Es hat sich noch immer ein gangbarer Weg gefunden, wenn auch vielleicht nicht immer der leichteste.

Wohin geht deine nächste Wanderung? 

Die nächste Wanderung ist Tour 100 des Blogs. Sie wird von Mannheim am Neckar entlang nach Heidelberg führen.

Der Frager bedankt sich bei Torsten Wirschum für das Interview.

Zur Website von Torsten Wirschum

Torsten Wirschum bei Twitter (sehr lesens- und sehenswert)

Die im Beitrag gezeigten Fotos ©TorstenWirschum

 

 

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Der Frager

Manfred Zimmer – Dipl. Inf., Texter/Konzeptioner ist Der Frager. Ob in der U-Bahn, beim Einkauf, beim Lesen der Zeitung oder online, im Leben des Fragers ploppen an jeder Ecke unzählige Fragen auf. Fragen, die gestellt werden wollen.

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